Die Gründung der AfD-Jugendorganisation in Gießen: Politische Strategie, Massenmobilisierung und Analyse der Sicherheitsrisiken
Die Hochspannung der politischen und sicherheitspolitischen Dynamik in Gießen
Der geplante Gründungskongress der neuen Jugendorganisation der Alternative für Deutschland (AfD), voraussichtlich unter dem Namen Generation Deutschland (GD), am 29. und 30. November 2025 in den Hessenhallen in Gießen, stellt eine hochkritische politische und sicherheitspolitische Herausforderung dar. Dieses Ereignis markiert nicht nur einen strategischen Reorganisationsversuch der AfD, ihre jugendliche Basis neu zu strukturieren, sondern mobilisiert auch eine der größten Gegenprotestbewegungen in der jüngeren hessischen Geschichte.
Zentrale Erkenntnisse und Risikobewertung
Die Konfrontation in Gießen ist durch ein deutliches Dualitätsprinzip gekennzeichnet: Einerseits der strategische Versuch der AfD, ihre Jugendstruktur neu zu institutionalisieren und dabei die juristischen Lasten der Vorgängerorganisation Junge Alternative (JA) abzuschütteln, andererseits eine massive und logistisch hochentwickelte zivilgesellschaftliche Gegenmobilisierung.
Die Sicherheitslage wird als kritisch eingestuft. Die Veranstalter des Gegenprotests rechnen mit über 10.000 Teilnehmenden, während die Behörden von einer deutlichen Überschreitung dieser Zahl ausgehen, wobei bis zu 40.000 Aktivisten erwartet werden. Das Hauptrisiko ergibt sich aus der dualen Strategie der Protestierenden: Neben legal angemeldeten Gewerkschafts- und Jugenddemonstrationen plant das Aktionsbündnis Widersetzen explizit Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams, insbesondere die Blockade von Zufahrtsstraßen zu den Hessenhallen.
Gießen ist aufgrund des Präzedenzfalls des Eritrea-Festivals im Juli 2023, bei dem es zu schweren Gewaltausbrüchen kam und 26 Polizeibeamte verletzt wurden, bereits als kritischer Sicherheitshotspot klassifiziert. Die Polizei ist daher verpflichtet, mit maximaler Einsatzstärke und einem engen Toleranzrahmen gegenüber Regelverstößen zu planen.
Wichtige politische Implikationen
Dieses Ereignis dient den hessischen Behörden als entscheidende Bewährungsprobe für das Gleichgewicht zwischen der Gewährleistung des verfassungsmäßigen Versammlungsrechts der AfD und dem Schutz der öffentlichen Ordnung vor geplanten Blockadeaktionen und potenzieller Gewalt. Der Erfolg der zivilgesellschaftlichen Druckkampagnen (Boykotte von Caterern und Hotels) sowie der tatsächliche Grad der internen Generation Deutschland-Neuordnung werden maßgeblich die zukünftige Risikolandschaft des Rechtsextremismus in Deutschland beeinflussen.
Die Strategie des AfD-Rebrandings: Von der JA zur Generation Deutschland
Die Neugründung einer Jugendorganisation durch die AfD ist kein spontaner Schritt, sondern das Ergebnis eines strategischen Manövers, um die Mutterpartei von den schwerwiegenden extremistischen Einstufungen der Vorgängerorganisation zu distanzieren und die interne Kontrolle zu festigen.
Der Kontext der Auflösung: Die Junge Alternative (JA) und der Status als „gesichert extremistisch“
Die Vorgeschichte der Neugründung ist untrennbar mit der juristischen und politischen Belastung der Jungen Alternative für Deutschland (JA) verbunden. Die JA, die von Juni 2013 bis März 2025 die de-facto Jugendorganisation der AfD war, wurde im April 2023 vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft.
Diese Einstufung stellte ein erhebliches Risiko für die Mutterpartei dar. Im Januar 2025 beschloss die AfD-Führung auf einem Parteitag in Riesa die Trennung von der JA, die daraufhin am 31. März 2025 ihre Selbstauflösung vollzog. Die Auflösung wurde unter anderem mit einem möglicherweise drohenden Vereinsverbot begründet.
Die Entscheidung, die JA zu ersetzen, war somit primär ein strategischer, notwendiger Schritt zur Errichtung einer Firewall. Die AfD reagierte auf die drohenden rechtlichen Konsequenzen, die sich aus der extremistischen Klassifikation der JA ergaben. Das primäre Ziel der Parteiführung war es, die politische Handlungsfähigkeit und die konstitutionelle Legitimität der AfD selbst zu sichern, indem man die strukturellen Verbindungen zur offiziell als extremistisch eingestuften Jugendorganisation kappte.
Das Gründungsziel: Warum Generation Deutschland (GD)?
Die neue Organisation, die am 29. November 2025 in Gießen gegründet werden soll, wird voraussichtlich den Namen Generation Deutschland (GD) tragen. Das zentrale politische Kalkül hinter der GD liegt in der straffen Anbindung an die Bundespartei. Die AfD-Führung argumentierte, die Reform solle "mehr Durchgriffsmöglichkeiten" gewährleisten, um bei Fehlverhalten oder zu großer Radikalisierung einzelner Mitglieder schnell eingreifen zu können.
Die GD dient dazu, die gesellschaftliche und generationale Verankerung der AfD zu verbessern, was für Parteien mit Überalterungstendenzen ein wichtiges Instrument zur langfristigen politischen Viabilität darstellt. Es werden etwa 2.000 Gründungsmitglieder in Gießen erwartet, was angesichts der Mitgliederzahl der JA (ca. 2.500 im März 2024) einen beträchtlichen Neustart darstellt.
Trotz des organischen Rebranding-Versuchs und der strukturellen Distanzierung von der als extremistisch eingestuften JA deutet die Planung des Gründungskongresses auf eine fortgesetzte ideologische Affinität zum radikalen rechten Milieu hin. Die Einladung von 26 Organisationen, die Infostände aufstellen dürfen, umfasst explizit Verlage und Zeitschriften wie Sezession und den Jungeuropa Verlag, die beide ebenfalls vom Bundesamt für Verfassungsschutz dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. Dies belegt, dass die organisatorische Sanierung nicht zwangsläufig eine ideologische Mäßigung bedeutet; die neue Jugendorganisation bleibt tief im radikalen rechten Spektrum verankert, weshalb sie in Medien bereits als „Höcke-Jugend“ bezeichnet wurde.
Operative Herausforderungen: Logistische Boykotte und Anfeindungen
Der Gründungsprozess der GD ist von erheblichen logistischen Schwierigkeiten begleitet, was den Erfolg der zivilgesellschaftlichen Druckkampagnen belegt. Kurz vor der geplanten Gründungsversammlung sah sich die AfD-Spitze mit Kündigungen von Verträgen konfrontiert: Das für den Bundesvorstand reservierte Hotel sowie der beauftragte Caterer hatten die Verträge gekündigt. AfD-Vize Kay Gottschalk sprach davon, dass das Hotel unter Druck gesetzt worden sei.
Diese Ausfälle schaffen unmittelbare operative und Sicherheitsprobleme für die Parteiführung. Last-Minute-Ersatzbeschaffungen binden nicht nur Ressourcen, sondern erhöhen auch die logistischen Verwundbarkeiten. Weiterhin sind Mitarbeiter der Messe Gießen GmbH, die die Hessenhallen zur Verfügung stellt, mit Boykottaufrufen und Anfeindungen konfrontiert worden. Das Messeunternehmen, das sich als eigenständig und ohne städtische Beteiligung agierend darstellt, betonte, man habe sich nichts vorzuwerfen, da in Mittelhessen keine vergleichbaren Ausführungs- und Größenkapazitäten wie die Hessenhallen existierten, was die Auswahl Alternativen einschränkte.
Die folgende Tabelle fasst die strategischen Unterschiede der Jugendorganisationen zusammen:
Vergleich der AfD-Jugendorganisationen (JA vs. Generation Deutschland)
Merkmal Junge Alternative (JA) Generation Deutschland (GD) [Geplant] Status
Aufgelöst (März 2025)
In Gründung (29. Nov 2025, Gießen)
BfV-Einstufung
Gesichert Extremistisch (seit 2023)
Ziel: Strukturelle Compliance; ideologisch dem rechten Milieu verbunden
Organisationsmodell
Weitgehend eigenständiger Verein
Eng an AfD-Bundespartei gebunden, um Durchgriff zu gewährleisten
Ideologische Affinitäten
Rechtsextremismus, Völkischer Nationalismus
Einladung rechtsextremer Akteure (Sezession) bestätigt ideologische Kontinuität
Gießen als Brennpunkt: Politisches Präzedenz und Sicherheitsrealität
Die Wahl Gießens als Gründungsort und die erwartete Konfrontation können nicht isoliert betrachtet werden. Die Sicherheitsplanung der hessischen Behörden steht unter dem direkten Eindruck kürzlicher, schwerwiegender Gewaltereignisse in der Stadt.
Der Veranstaltungsort und die kommunalen Einschränkungen
Die Hessenhallen werden für die Gründungsveranstaltung genutzt. Die Stadt Gießen hat öffentlich klargestellt, dass die Messe Gießen GmbH ein eigenständiges Unternehmen ohne städtische Beteiligung ist. Die Kommune kann die Vermietungsentscheidung an die AfD daher nicht beeinflussen. Die Verantwortung der Stadt beschränkt sich auf die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
Der Oberbürgermeister von Gießen, Frank-Tilo Becher, und die Verwaltung sehen sich gezwungen, das Versammlungsrecht der AfD zu schützen, während sie sich gleichzeitig auf ein Höchstmaß an Gegenprotest und potenziellen Konflikten vorbereiten. Die zeitliche Nähe der Veranstaltung zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes und zum ersten Adventswochenende erhöht die Komplexität der polizeilichen Logistik erheblich.
Historische Sicherheitsanalyse: Lehren aus dem Eritrea-Festival 2023
Der wichtigste Bezugspunkt für die aktuelle Sicherheitsbewertung ist das sogenannte Eritrea-Festival, das im Juli 2023 in Gießen stattfand. Die Veranstaltung, die von regimenahen Gruppen organisiert wurde, führte zu massiven Ausschreitungen durch Regimekritiker.
Die polizeiliche Bilanz war verheerend: Die Gewalt, die Stein- und Flaschenwürfe sowie der Einsatz von Rauchbomben gegen Einsatzkräfte umfasste, resultierte in 26 verletzten Polizisten, über 130 Personen, die in Gewahrsam genommen wurden, und 125 erstatteten Strafanzeigen, hauptsächlich wegen Landfriedensbruchs. Die Ausschreitungen waren so schwerwiegend, dass der Busverkehr eingestellt wurde und die Polizei die Bevölkerung aufforderte, die Gießener Innenstadt weiträumig zu meiden. Der damalige hessische Innenminister kritisierte, Gießen sei zum „Schauplatz eritreischer Konfliktlagen gemacht“ worden.
Dieser Präzedenzfall liefert den Behörden konkrete und hohe Sicherheitsmetriken für die Risikobewertung im November 2025. Das Ausmaß der Gewalt und der erhebliche Kontrollverlust über Teile der Stadt im Jahr 2023 bilden die operative Basis für die Einsatzplanung: Jegliche Form von zivilem Ungehorsam oder Blockadeversuchen muss angesichts dieser Vorgeschichte mit äußerster Entschiedenheit begegnet werden, um eine Wiederholung der massiven Störung der öffentlichen Ordnung zu verhindern.
Politischer und vorbereitender Kontext der hessischen Behörden
Der hessische Innenminister Poseck hat die Radikalisierung der AfD, die er in Teilen als rechtsextrem einschätzt, als "eine große Gefahr für unsere Demokratie" bezeichnet. Gleichzeitig betonte er die Notwendigkeit, Polizei und Verfassungsschutz personell und technisch zu stärken, um Bedrohungen erfolgreich zu begegnen. Diese Haltung signalisiert eine politische Legitimation für einen massiven Polizeieinsatz, der darauf abzielt, die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, während gleichzeitig die verfassungsrechtliche Gefahr durch die AfD benannt wird.
Die Stadt Gießen und die Polizei bereiten sich seit Monaten auf den Großeinsatz vor und aktualisieren ihre Informationen laufend, was die dynamische und unklare Natur der Bedrohungslage widerspiegelt. Die Polizei hat bereits vor potenzieller Gewalt bei den geplanten Demonstrationen gewarnt.
Die Gegenmobilisierung: Ein Spektrum von Proteststrategien
Die Mobilisierung gegen die AfD-Gründung ist durch eine enorme Größenordnung und eine strategisch aufgeteilte Organisation gekennzeichnet, die legale Demonstrationen und gezielten zivilen Ungehorsam umfasst.
Umfang der Mobilisierung und offizielle Erwartungen
Die Organisatoren der Gegenproteste, darunter das bundesweite Bündnis Widersetzen, erwarten selbst eine Teilnehmerzahl von über 10.000 Personen. Die Stadt und die Polizei rechnen jedoch damit, dass diese Zahl "deutlich überschritten wird" und möglicherweise bis zu 40.000 Menschen nach Gießen anreisen werden.
Dieses erwartete Ausmaß platziert die Gießener Proteste in der Größenordnung der großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, die Deutschland seit Anfang 2024 erlebte (z. B. Frankfurt am Main, Hamburg). Eine solche Massenmobilisierung zeugt von einer anhaltend hohen zivilgesellschaftlichen Sensibilität gegenüber der Radikalisierung der AfD und stellt die Behörden vor erhebliche logistische Herausforderungen.
Die breite Koalition: Der legal angemeldete Protest
Die Hauptachse des legalen Gegenprotests wird von einer breiten zivilgesellschaftlichen und politischen Koalition getragen. Dazu gehören der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Nordhessen und Mittelhessen, die Gewerkschaft ver.di Nordhessen, die DGB-Jugend, die Jusos, die Grüne Jugend, sowie Vereine wie „Kein Bock auf Nazis“ und „Omas gegen Rechts Gießen“. Auch Organisationen wie Attac rufen zum Protest auf.
Diese Gruppen organisieren eine Reihe von legalen Zubringerdemos und Kundgebungen. Der Plan sieht eine gestaffelte Ankunft vor: Eine frühe Kundgebung am Hauptbahnhof Gießen beginnt bereits um 05:00 Uhr. Darauf folgen Demonstrationen der DGB-Jugend ab 06:30 Uhr und der Jusos/Grünen Jugend ab 07:30 Uhr, die vom Bahnhof bzw. vom Berliner Platz aus zu den Hessenhallen führen. Die Hauptkundgebung des DGB in der Weststadt, in unmittelbarer Nähe der Hessenhallen, beginnt offiziell um 08:00 Uhr. Diese Logistik ist darauf ausgelegt, die Masse der Teilnehmenden kontrolliert und innerhalb des gesetzlichen Rahmens an den Ort der AfD-Veranstaltung zu bringen, um den politischen Widerspruch maximal sichtbar zu machen.
Der radikale Flügel: Das Bündnis Widersetzen und ziviler Ungehorsam
Parallel zur legalen Großkundgebung mobilisiert das bundesweite Aktionsbündnis Widersetzen für Aktionen, die bewusst die Grenzen des Versammlungsrechts überschreiten sollen. Das Bündnis hat explizit "Aktionen des massenhaften zivilen Ungehorsams" angekündigt, mit dem Ziel, die Zufahrtsstraßen zum Tagungslokal durch Massenblockaden zu versperren. Das Bündnis verfügt über Erfahrung in der Organisation solcher Störaktionen, wie es bereits bei AfD-Parteitagen in Riesa und Essen der Fall war.
Diese taktische Ausrichtung, die auf physische Blockaden abzielt, schafft den direkten Konfliktpunkt mit der Polizei. Das Bündnis organisiert bundesweite Busanreisen, was die hohe taktische und logistische Organisation dieser radikalen Flanke unterstreicht.
Die Rhetorik der Eskalation: Einordnung des Slogans „Gießen zum Brennen bringen“
Die ursprüngliche Meldung, die der Anfrage zugrunde liegt, bezieht sich auf die rhetorische Zuspitzung, die „Antifa will Stadt Gießen zum Brennen bringen“. Diese aggressive Formulierung tauchte in Berichten im Zusammenhang mit dem Druck auf Hotels und Caterer auf.
Es muss festgehalten werden, dass diese extreme Rhetorik nicht von den organisierenden Mainstream-Akteuren wie dem DGB oder den politischen Jugendorganisationen verwendet wird. Solche Formulierungen stammen typischerweise aus dem radikalen, dezentral organisierten Spektrum des Protests und dienen in der Regel der maximalen Mobilisierung. Die mediale Hervorhebung solcher Slogans dient dazu, die öffentliche Wahrnehmung des gesamten Protests zu radikalisieren und das erwartete hohe Polizeiaufgebot zu rechtfertigen, indem der legitime zivilgesellschaftliche Widerstand mit generalisierter Gewalt in Verbindung gebracht wird.
Rechtlicher Rahmen und Management der öffentlichen Ordnung
Der Polizeieinsatz in Gießen wird durch das verfassungsrechtliche Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Versammlungsrechts der AfD und der Durchsetzung der öffentlichen Ordnung gegen geplante rechtswidrige Störaktionen definiert.
Die Spannung zwischen Versammlungsrecht und öffentlicher Sicherheit
Die AfD genießt als politische Partei den Schutz des Versammlungsrechts. Die Versuche der Partei, ihre Veranstaltungen abzuhalten, wurden in der Vergangenheit durch erfolgreiche Eilanträge vor Verwaltungsgerichten untermauert, um sicherzustellen, dass die Versammlungsfreiheit gewährleistet bleibt.
Die hessischen Sicherheitsbehörden stehen somit vor der paradoxen Aufgabe, die Grundrechte einer Partei zu schützen, die vom zuständigen Innenminister explizit als Gefahr für die Demokratie eingestuft wird. Dieses Dilemma erfordert eine juristisch präzise und operativ entschlossene Vorgehensweise. Der Staat muss das Recht auf Versammlungsfreiheit (AfD) gegen das Recht auf politische Meinungsäußerung (Gegenprotest) abwägen, wobei gewalttätige oder verfassungsfeindliche Aktionen (Blockaden, Krawalle) rigoros ausgeschlossen werden müssen.
Analyse der Legalität von Blockaden in der deutschen Rechtsprechung
Die Pläne des Bündnisses Widersetzen für „Massenblockaden der Zufahrtsstraßen“ stellen eine direkte Überschreitung der legalen Protestformen dar. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass physische Blockaden gegen politische Demonstrationen strafbar bleiben. Solche Aktionen können als Nötigung oder, bei Gewaltanwendung und in der Masse, als Landfriedensbruch gewertet werden.
Angesichts dieser eindeutigen Rechtslage und insbesondere des gewalttätigen Präzedenzfalls vom Juli 2023 wird die Polizei die Gewährleistung des Zugangs zu den Hessenhallen als oberste Priorität einstufen müssen. Die Notwendigkeit, das AfD-Treffen zu ermöglichen, wird eine schnelle und entschlossene polizeiliche Reaktion auf jegliche Versuche des zivilen Ungehorsams an den Zufahrtswegen erfordern. Die erwartete hohe Teilnehmerzahl der Blockierer bedingt eine massive Ressourcenmobilisierung für die Räumung, was die Wahrscheinlichkeit physischer Auseinandersetzungen erhöht.
Erwartete polizeiliche Reaktion und Ressourceneinsatz
Die vorbereitenden Maßnahmen des hessischen Innenministeriums umfassen die Stärkung der Sicherheitsbehörden und eine explizite Warnung vor Gewalt. Der Polizeieinsatz wird voraussichtlich überregional koordiniert und personalisiert sein, um die logistische Herausforderung von bis zu 40.000 Gegenprotestierenden zu bewältigen, die sich auf das Stadtgebiet verteilen.
Die strategische Herausforderung liegt in der Trennung und Steuerung der verschiedenen Protestsegmente: Einerseits müssen die großen, friedlichen Demonstrationen des DGB und anderer legaler Bündnisse begleitet werden. Andererseits muss gleichzeitig die gezielte Isolation und Auflösung der radikalen Blockadeversuche durch das Widersetzen-Bündnis erfolgen. Die Nutzung von spezialisierten Einsatzeinheiten und möglicher technischer Ausrüstung zur Überwachung und Koordination (digitalisierte Strategien, eventuell KI-gestützte Logistik, wie von Innenminister Poseck angestrebt) wird unumgänglich sein, um ein erneutes Chaos wie 2023 zu verhindern.
Projektierte Sicherheitsrisikobewertung (29./30. November)
Auf Basis der vorliegenden Planungen der Protestgruppen und der Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen sich spezifische Eskalationsszenarien für den Zeitraum des Gründungskongresses ableiten.
Konfliktdynamik und Szenarien für die Eskalation
Die Hauptgefahr liegt in der Überschneidung der verschiedenen Protestformen, insbesondere der geplanten illegalen Störaktionen:
Szenario A: Erfolg der Massenblockade
Sollte es dem Widersetzen-Bündnis gelingen, die Hauptzufahrtswege zu den Hessenhallen effektiv und massenhaft zu blockieren, würde dies die Polizei zwingen, sofort und massiv zu räumen. Eine solche Räumung in großem Stil, möglicherweise unter Einsatz von unmittelbarem Zwang, führt fast unvermeidlich zu einer hohen Zahl von Festnahmen, leichten Verletzungen auf beiden Seiten und zu zeitlichen Verzögerungen im gesamten Einsatzgebiet. Der Erfolg einer Blockade würde die operative Durchführung der AfD-Veranstaltung selbst gefährden und könnte das Gefühl der Kontrolle bei den Sicherheitsbehörden untergraben.
Szenario B: Direkte Auseinandersetzung zwischen Gruppierungen
Ein direktes Aufeinandertreffen zwischen anreisenden AfD/GD-Teilnehmern – deren ideologisches Umfeld bekanntermaßen auch rechtsextreme Akteure umfasst, wie die eingeladenen Verlage zeigen – und radikalen Gegendemonstranten birgt ein hohes Eskalationspotenzial. Dieses Risiko wird durch die AfD-seitigen logistischen Probleme (Kündigung von Hotels und Catering) verschärft. Müssen AfD-Funktionäre oder Teilnehmer ungesicherte Wege nutzen, steigt die Wahrscheinlichkeit spontaner, gewalttätiger Konfrontationen.
Szenario C: Kontamination des friedlichen Protests
Ein kritischer Risikofaktor ist die Möglichkeit, dass gewalttätige Einzelaktionen des radikalen Flügels Polizeimaßnahmen provozieren, die sich auf die legalen, friedlichen Großkundgebungen des DGB ausweiten. Sollte die Polizei zur Räumung von Blockaden auf Mittel wie Reizgas oder Wasserwerfer zurückgreifen müssen, könnten diese Maßnahmen auch friedliche Teilnehmende treffen. Dies könnte zu einer sekundären Eskalationsspirale führen, in der sich die große, friedliche Masse durch polizeiliches Handeln provoziert fühlt, was die Gesamtlage unkontrollierbar macht, ähnlich wie bei den Vorfällen im Jahr 2023.
Sekundäre Risikofaktoren und urbane Auswirkungen
Der Termin am ersten Adventswochenende, der mit dem Beginn des Weihnachtsmarktes und dem normalen Wochenmarktverkehr zusammenfällt, sorgt für eine Überlagerung von zivilem Publikumsverkehr und politischer Großveranstaltung.
Dieser Umstand erschwert die polizeiliche Raumkontrolle und die Sicherstellung von Rettungswegen immens. Erwartet werden massive Verkehrsbeeinträchtigungen und Umsatzeinbußen für den lokalen Einzelhandel. Die Aufrechterhaltung der Sicherheit des Weihnachtsmarktes bei gleichzeitiger Bindung Tausender Einsatzkräfte an den Hessenhallen stellt eine signifikante Zuteilungsherausforderung für die Sicherheitsbehörden dar. Die Verknüpfung dieser Faktoren erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die gesamte Stadt Gießen am 29. November in einen Ausnahmezustand versetzt wird.
Langfristige Implikationen für die deutsche demokratische Resilienz
Die Ereignisse in Gießen bieten eine Momentaufnahme der Spannungen in der deutschen Demokratie und haben weitreichende Implikationen für die politische und sicherheitspolitische Zukunft.
Bewertung des Erfolgs des AfD-Rebrandings
Der Ausgang des Gründungskongresses wird als Gradmesser für die strategische Effizienz der AfD dienen. Gelingt es der Generation Deutschland, trotz der vehementen Gegenwehr und der logistischen Störversuche, stabil und funktionsfähig gegründet zu werden, so demonstriert die AfD ihre Fähigkeit, strukturell auf behördliche und juristische Einstufungen (wie die Einstufung der JA als gesichert extremistisch) zu reagieren und eine organisatorische „firewall“ zu errichten. Dies würde einen wichtigen Präzedenzfall für das Management von Extremismusrisiken innerhalb des politischen Parteiensystems schaffen, wobei die organisatorische Neuausrichtung die ideologische Kontinuität überlagert.
Scheitert die Gründung jedoch massiv – entweder durch erfolgreiche Blockaden, die das Treffen verhindern oder schwer stören, oder durch die Unfähigkeit, die Organisation aufgrund der Boykotte stabil aufzubauen – würde dies den Erfolg der Strategie des zivilen Ungehorsams und der zivilgesellschaftlichen Druckkampagnen belegen. Dies würde die Rekrutierungsziele der AfD kurz- bis mittelfristig empfindlich treffen.
Der Einfluss der Massenmobilisierung auf den politischen Diskurs
Die geplante duale Proteststrategie, die legale Großdemonstrationen (DGB) mit gezieltem zivilem Ungehorsam (Widersetzen) verbindet, markiert eine Eskalationsstufe in den Taktiken des zivilgesellschaftlichen Protests gegen Rechtsextremismus. Die Bereitschaft, die verfassungsrechtlich geschützten Versammlungsrechte der AfD aktiv durch Blockaden zu stören, zeigt, dass Teile der Zivilgesellschaft die Verteidigung der Demokratie durch direkte Störaktionen höher gewichten als die strikte Einhaltung des Versammlungsrechts für eine als extremistisch oder Extremismus nah betrachtete Organisation.
Die Gießener Konfrontation ist somit Teil eines breiteren gesellschaftlichen Trends massiver, anhaltender Anti-Rechtsextremismus-Proteste, die in Deutschland seit 2024 beobachtet werden. Das Ereignis in Gießen bündelt diesen nationalen Widerstand in einer einzigen, hoch riskanten lokalen Operation, bei der die Grenzen zwischen legalem Protest und Widerstand und illegaler Störung neu ausgehandelt werden.
Detaillierte Empfehlungen für Behörden und Interessenvertreter
Basierend auf der Risikoanalyse und den Lehren aus dem Präzedenzfall 2023 werden folgende Handlungsempfehlungen für staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure formuliert:
Operative und juristische Überprüfung
Die Sicherheitsbehörden sollten eine detaillierte, sofortige Überprüfung der Einsatzstrategien und der eingesetzten Zwangsmittel nach dem 29./30. November durchführen. Besondere Aufmerksamkeit muss der Effektivität der Räumungsstrategien gegen die geplanten Massenblockaden gelten, insbesondere im Hinblick auf die Vermeidung von ungewollter Eskalation des friedlichen Protestes (Kontaminationseffekt). Die Bewertung sollte die Verletzungsraten von Einsatzkräften und die Zahl der Strafanzeigen direkt mit den Kennzahlen des Eritrea-Festivals 2023 vergleichen, um die operationelle Verbesserung zu messen.
Verbesserung der Koordination der Interessenvertreter
Für künftige Großereignisse in städtischen Zentren, die mit großen zivilen Veranstaltungen (wie dem Weihnachtsmarkt ) zusammenfallen, muss die Koordination zwischen Polizei, Ordnungsämtern, Rettungsdiensten, Verkehrsbetrieben und dem lokalen Einzelhandel formalisiert und intensiviert werden. Es sind klare, frühzeitig kommunizierte Protokolle zur Verkehrssteuerung, Notfallzugängen und zur Minimierung der Störung des öffentlichen Lebens zu etablieren.
Zukünftige Risikominderung und Dialog
Die Stadt Gießen und relevante Akteure sollten den Dialog mit privaten Veranstaltern wie der Messe Gießen GmbH intensivieren. Obwohl die Stadt keine rechtliche Handhabe zur Verhinderung der Vermietung hat, können Gespräche über ethische Richtlinien oder vertragliche Klauseln zur politischen Neutralität dazu beitragen, die Sicherheitslast der Kommune bei zukünftigen Hochrisikoveranstaltungen zu mindern. Der Fokus muss auf der präventiven Reduzierung der Wahrscheinlichkeit derartiger Konfrontationen liegen, um die demokratische Debatte vom Schauplatz der Gewalt zu entkoppeln.
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